Broken Tears
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Langsam waberte der Nebel um den Fuß eines mächtigen Baumes. Wie Wellen lechzten er die Wurzeln hinauf, immer höher, bis er die Gestalt erreichte, die hoch oben in einer Astgabel saß. Kurz bevor der Nebel sie erreichte, erstarrte er.
Von weit entfernt konnte man einen Wasserfall plätschern hören, doch durch den weißen Dunst konnte man nichts erkennen. Ganz leise sang ein Vogel, ebenso weit entfernt wie das Wasser. Doch all das bemerkte der alte Greis nicht. Ohne eine Gefühlsregung beobachtete er das wabernde Nichts, das nun wieder   näher kam.
„Dann ist es also so weit...“, flüsterte er mit altersschwacher Stimme. „Es wird geschehen....“
Der Greis schloss seine Augen. Er wusste, das seine Zeit gekommen war, und sich nun alles verändern würde. Einen Teil seiner verbliebenen Kraft leitete er in den Baum, auf dem er saß. Leise raschelten die Efeuähnlichen Blätter, fast so, als würden sie ihn aufmuntern wollen.   Murmelnd sprach er einen Zauber aus, der diese Pflanze auf ewig beschützen solle, den seine Vernichtung würde dem Weltuntergang gleichkommen.   Beide Welten würden in Chaos versinken – nein, das durfte nicht passieren ! Der Tod lauerte bereits auf ihn, doch der Mann spürte keinerlei Furcht oder Bedauern. Jahrhunderte lang hatte er das Tor gehütet, aber wie alles andere nahm auch dies ein Ende.
Nun konnte er nur noch auf das Vergessen der Menschen und die Erfurcht der Elfen hoffen. Doch schließlich standen auch die Naturgeister auf seiner Seite. Und Lajehan. Ein leises Lächeln schlich sich auf das faltenreiche Gesicht des Weisen. Seine Wurzeln waren so stark, das sie sogar in Gajeha und Terra wuchsen und ihr Licht verbreiteten.
Fast so, als hätten sie seine Gedanken gelesen, schlängelten sie sich schlangengleich nach oben, bis sie den Greis erreichten. Wie einen Kokon umschlossen sie den Weisen, um ihn von dem Dunst zu schützen. Immer weiter verflochten sie sich, um nichts hindurchzulassen.
Doch im Innerem wusste der Weise, das nichts, absolut nichts, dem Weg des Todes entkommen kann. Auch sein Auftrag konnte daran nichts ändern, obwohl er wichtiger war als alles andere. Sollte Lajehan aufgeben und jemanden in die andere Welt durchlassen, würde das ein Chaos auslösen, das beide Existenzen durcheinander bringen wird.
Die Zeit floss dahin. Lajehan bemühte sich, seine Wurzeln zu Rettung einzusetzen, doch beide wussten, dass es sinnlos war. Der Baum erbebte. Tief im Innerem spürte der Weise, dass die Pflanze jemandem rief, doch wen, konnte er nicht mehr erkennen. Vor seinen Augen verschwammen die Konturen und er begann zu zittern. Die Blätter Lajehans erbebten.

Plötzlich tauchten fremde Gefühle auf. Mit allerletzter Kraft hob der Greis seinen Kopf und spähte durch das Loch, das die Wurzeln nun bildeten. Naturgeister. In jeder nur erdenklichen Form waren sie aufgetaucht, um seine letzten Minuten beizuwohnen. Er dankte seinem langjährigem Freund aus tiefstem Herzen, denn die Naturgeister waren eng mit seinem Leben verbunden gewesen. Sie haben mit ihm gelebt und waren stets bei ihm gewesen, um seine Kraft zu stärken.
Der Dunst umschloss den Wurzelballen und Lajehan gab ihn frei. Auf seinem hölzernen Stab, der dem des Gajehan- Geschlechts haargleich ähnelte, gestützt, trat er seinem Schicksal entgegen. Als der Nebel ihn erreichte, stimmten die Elementargeister einen Singsang an, der so unglaublich traurig klang, dass Lajehan erbebte. Voll Trauer, um seinen Freund und Beschützer, verlor er einen Teil seiner Blätter, die sanft dem Boden entgegenschwebten.
Ein Katzengleicher Geist trat hervor und verbeugte sich ehrfürchtig vor dem Riesigem Stamm, und alle Geister machten es ihm nach.  
Die Konturen des Greises waren noch einmal deutlich zu erkennen, dann verdichtete sich der Dunst und verflüchtigte sich in den unendlichen Weiten dieser Welt. Der Mann war nicht mehr zu sehen, doch jeder der Elementargeister spürte deutlich seine Anwesenheit.

Nun war das Tor der Welten geöffnet, denn der Wächter war verstorben. Nun mussten die Geister dafür sorgen, dass niemand das Wurzeltor durchqueren wird ...